Ich möchte euch die Gattung der Tragödie vorstellen. Sowohl die Ziele der Tragödie, als auch die Geschichte, denn die Geschichte ist was ganz faszinierendes, vor allem, was die Literaturgattungen anbelangt.
Die Tragödie (oder das Trauerspiel) gilt als die höchste Form des Dramas. Sie ist eng verbunden mit dem Begriff des Tragischen, das zwar auch in Epos, Roman, Novelle, Ballade enthalten ist, sich aber in ihr am eindringlichsten verwirklicht. Das Tragische als Kunstform darf nicht mit dem Wort »tragisch« im alltäglichen Sprachgebrauch verwechselt werden. Ein »tragischer Unfall« ist eigentlich traurig, wie jedes Leid oder Ende eines Menschen, das uns sinnlos erscheint.
Gegenstand der Dichtung ist die Tragik, die entsteht, wenn der Mensch in einen unlösbaren Konflikt zwischen zwei Mächten verwickelt wird, in dem er sich für eine entscheiden muss, obwohl er beiden zuneigt, beide für wertvoll hält. Es kann sich um die Kollision von zwei weltlichen Mächten (Konflikt der Pflichten) oder einer weltlichen und einer überweltlichen (Gott-Mensch-Konflikt) handeln, es können zwei gleichberechtigte ethische Normen zusammenprallen (Konflikt zwischen Notwendigkeit und Freiheit); der Held kämpft für eine Seite, wird zwangsläufig schuldig, weil die andere Seite ebensolches Lebensrecht hat, von ihm aber bedroht oder geschädigt wird.
Am Ende unterliegt der Held; er muss nicht sterben, er kann auch seelisch zusammenbrechen (Tasso, Medea). Auf den tragischen Untergang hin ist die Tragödie aufgebaut, der Verlauf ist unaufhaltsam und notwendig.
Seit Aristoteles fragt man nach den Regeln der Tragödie, und seither wandeln sich die Antworten. Die konzentrierteste Formulierung des klassischen Begriffs von tragisch stammt von Goethe: »Das Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz.« Je tiefer das Leid des Helden, um so größer die Wirkung der Tragödie, deren Ziel die Erschütterung des Zuschauers ist. Diese ergibt sich aus dem Bezug zu unserer Welt: Auch wir könnten in einer gleichen Situation so handeln, auch wir sind bedroht. Aristoteles schließt seine Definition der Tragödie mit der Bemerkung, sie errege Mitleid und Schrecken (bzw. Furcht) und führe zur Reinigung.
Nach der Ständeklausel, die auch auf Aristoteles zurückgreift, muss der Held der Tragödie der höchsten Gesellschaftsschicht angehören; den Bürger glaubt man erhabener Gefühle nicht fähig, außerdem fehlte ihm die soziale »Fallhöhe«, die angeblich die tragische Wirkung hervorbringt. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh. s entsteht das bürgerliche Trauerspiel. Lessing erkennt, dass das tragische Moment allein in der Seele des Individuums liegt. Damit kann auch der Bürger zum tragischen Helden werden, und die Anteilnahme des Publikums verstärkt sich, da man sich selber auf der Bühne sieht.
Mit dem Gehalt wandelt sich auch die Sprache; sie wird schlichter. Entwickelt wurde die Tragödie von den Griechen, sie war zunächst reiner Kultakt. Die moderne Tragödie beginnt in der Renaissance mit Calderon, Racine, Shakespeare; sie endet im 19. Jh., in einer Zeit, da durch ökonomische und politische Zwänge das Individuum seinen Wert verloren hat. Es fehlt jede Voraussetzung für eine Tragödie, wenn das Heldentum eines Einzelnen die Welt nicht mehr verändern und erlösen kann.
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Quelle:livingbox