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 Das Milchbild

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Dabiku
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BeitragThema: Das Milchbild   Das Milchbild EmptyFr Jun 06, 2008 2:28 pm

Das Milchbild

Während Rita ihren Rücken durchstreckte, legte sie gleichzeitig die Bürste weg und atmete tief durch. Noch auf den Knien verharrend begutachtete sie ihr Werk. Der Boden vor ihr war sauber. Die Steine blitzten wieder in ihrem Rot. Die weißen Milchflecke waren verschwunden. Auch das Gitter des Abflusses war wieder rein und die Gitterstäbe getrocknet.
Aus dem Hintergrund drangen leise Kaugeräusche und gelegentliches Muhen der Kühe an ihre Ohren. Ein paar Fliegen schwirrten herum.
Sie seufzte erleichtert. Das war wieder ein harter Tag gewesen! Bäuerin zu sein, war nicht einfach. Es war ein Knochenjob! Aber sie war es schon seit Jahr und Tag, mit Leib und Seele. Eigentlich ging es ihr gut. Sie konnte sich nicht beschweren. Wenn nur das Leben nicht so teuer wäre! Die Preise stiegen fast täglich. Sie und ihr Mann Rainer hatten zu tun, ihre laufenden Kosten begleichen zu können. Wenn sie nur mehr verdienen würden! Aber so einfach war das nicht. Dass, was sie auf dem Bauernhof produzierten, konnten sie nur zu bestimmten Preisen verkaufen. Ja, wenn sie die Milch ihrer Kühe teurer verkaufen könnten, dann würde alles besser sein! Man musste sich wehren und es der Regierung und dem Handel zeigen! Ihr Blick fiel auf den Abfluss. Deswegen hatten sie heute viele Liter Milch weg geschüttet. Wenn sie sie verkauft hätten, hätten sie eh nichts weiter verdient. Also, dann lieber vernichten und die Preise hochtreiben, waren ihre Überlegungen gewesen.
Außerdem hatte man die Presse hinzugezogen. Morgen würde ein Bild von dieser Aktion erscheinen. Vielleicht nützte es ihrem zukünftigen Verdienst. Wenn alles gut ging, bekamen sie auch noch für dieses Foto ein paar Euros. Das Bild sollte groß auf dem Titelblatt zu sehen sein. Sie freute sich schon ein klein bisschen darauf und fühlte so etwas wie Stolz.
Voller Gedanken stand Rita auf, verließ den Kuhstall und machte sich in der Abenddämmerung auf den Weg ins Haus. Ihre Gedanken konnten vom Geld nicht los kommen. Was sollte das bloß werden! Das Futter und das Essen waren sehr teuer. Der Benzinpreis zog ständig an. Ihr 5 Jahre altes Auto schluckte viel Benzin. Sie brauchten ein neues, eines mit weniger Verbrauch. Aber woher das Geld nehmen?Ihre Küchenmöbel waren so abgenutzt, dass erst heute früh eine der Schubladen ihre Vorderfront beim Herausziehen verlor. Sie seufzte wieder. Das Leben war in Deutschland fast unmöglich geworden.
Während sie so grübelte, merkte sie nicht, dass sie ihre Füße vom sorgfältig gepflasterten Hofweg weg an den Rand trugen. Es wurde jetzt schnell dunkel. Plötzlich stolperte sie über den Wegrand und stürzte.

Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, dann rappelte sie sich schnell auf und ging weiter. Ihr Schritt wurde langsamer. Alles schien plötzlich verändert. Sie konnte ihr Haus nicht mehr sehen. Es war auf einmal sehr warm um sie herum. Sie begann zu schwitzen. Ihr wurde schwindlig. Sie schwankte und fühlte sich, als wäre sie endlos lange in sengender Hitze gelaufen. Ihre Zunge war wie vom Durst ausgetrocknet. Der Hals kratzte.
Um sie herum hatte sich die Landschaft verändert. Die Bäume waren verschwunden. Überall war Sand zu sehen. Sie schüttelte ihren schmerzenden Kopf. Hatte sie eine Gehirnerschütterung? Das fehlte ihr gerade noch: Praxisgebühren und Medikamente! Langsam schleppte sie sich weiter. Da tauchte auf einmal ein Zelt im Halbdunkel vor ihr auf. Wollten die Kinder heute Nacht zelten? Es war ihr neu. Sie schaute genauer hin. Es war ein komisches Zelt aus alten Stoffresten, mit Planen versetzt, notdürftig zusammengebaut. Ärgerlich dachte Rita, dass die Kinder doch hätten sagen können, dass sie zelten wollten, dann hätte sie das Zelt vom Boden geholt. Sie müssen sich doch nicht so etwas zusammenbasteln! Wenn die Zeiten auch nicht einfach waren und man sich keine neues Zelt leisten konnte, aber ihr Altes war doch noch da!
Energisch und etwas wütend schlug sie die Eingangsplane zurück und betrat das Zelt.
Verblüfft blieb sie stehen.
Es war fast dunkel, ein leises Wimmern und Gemurmel erreichte sei. Die Luft war abgestanden und roch nach vielem Leben in einem Raum. Weiter hinten brannte ein kleines Öllämpchen. Sie sah viele Menschenumrisse. Ein Mädchen bahnte sich einen Weg zu ihr durch und rannte auf sie zu:"Mama! Hast du was zu essen und trinken mitgebracht? Ich habe solchen Hunger!", rief die Kleine und griff nach Ritas Hand. Die Kleine hatte eine sehr dunkle Hautfarbe, ihre fremdklingenden Wortlaute konnte Rita sonderbarer weise gut verstehen. Die Augen des Kindes waren groß und rund. Sie blickten traurig. Dann fiel Ritas Blick auf den stark gewölbten Leib des Mädchens:ein Hungerbauch! Das Mädchen streckte die Hand aus. Automatisch kam Rita ihr mit ihrer Hand entgegen. Sie hörte sich selbst in dieser fremden Sprache sprechen. Aber sie verstand, was sie sagte.: "Nein, ich habe wieder nichts für euch." Dabei schaute sie auf ihre Hand. Sie erschrak:diese Hand war dünn und hatte lange vom Hunger ausgezehrte Frauenfinger. Ihre Hand war fast schwarz. Es war die Hand einer Afrikanerin! Ihr wurde immer schlechter. Dass dumpfe Schwindelgefühl, dass sie die ganze Zeit begleitet hatte, wurde stärker:"Hunger!", dachte und fühlte sie. In diesem Moment winkte sie ein Mann nach hinten, in die äußerste Ecke des Zeltes. Die anderen machten ihr Platz. Sie ging dorthin. Auf einer alten Matratze lag ein kleiner Junge. Der Mann flüsterte:"Du musst ihm die Milch geben. Er wird sonst sterben.", Rita spürte Entsetzen und tiefe Trauer. Resignation stieg in ihr hoch:"Ich habe keine Milch. Die Hilfslieferung ist nicht eingetroffen. Die deutschen Bauern schütten zur Zeit ihre Milch weg.", flüsterte sie. Die anderen sahen sie verständnislos an. Der Junge vor ihr öffnete langsam seine Augen. Ein Erkennen flimmert in ihnen:"Mam..."formten seine trockenen Lippen, dann wurde es still. Kein Atemzug war mehr zu hören. Der kleine Körper hatte den Kampf gegen Hunger und Durst verloren.
Rita beugte sich tief zu dem Jungen hinunter. Sie wollte weinen. Sie schluckte. Aber die Tränen wollten nicht kommen. Sie war zu schwach. Das Leid war zu groß. Der Hunger hatte das ganze Volk im Griff.
Zärtlich zog sie den Kleinen noch einmal in eine letzte Umarmung, während sie gleichzeitig das kleine weiße Steinchen aus seiner Hand löste, mit dem er in den letzten Tagen noch gespielt hatte. Es war etwas,was ihr von ihm blieb.
Dumpf nahm sie dann wahr, dass ihr Mann sie schüttelte. Er rief sie laut beim Namen. Dann fühlte sie sich hochgezogen. Sie stand auf, schaute nach oben und...

...sah ihrem Mann Reiner ins Gesicht. Er schüttelte mit dem Kopf:"Was ist denn bloß passiert. Ich habe dich überall gesucht und jetzt endlich hier am Wegesrand gefunden! Was machst du nur! Geht es dir gut?", meinte er erschrocken. Sie nickte nur.
„Komm rein, es ist spät." brummte er, drehte sich um und ging langsam vor ihr her, zurück ins Haus.
Vollkommen durcheinander, leise schluchzend folgte Rita ihm. Wie durch einen Schleier nahm sie ihre Umgebung war. Es war ihr vertrautes zu Hause!
Sie musste sehr lange bewusstlos gewesen sein, denn als sie die Küche betrat, schlug die Uhr schon die vierte Stunde des neuen Tages an. Das blinkende Pendel zeigte ihr für einen Moment ihr gewohntes Spiegelbild.
Stumm setzte sie sich an den großen Tisch. Ihr Mann schob sich den Stuhl gegenüber zurecht, stellte Rita einen großen Topf mit dampfendem Kaffee hin und setzte sich dann:"Duschen und zum Arzt, das machen wir dann, okay? Trink erst mal," murmelte er und begann mit der Morgenzeitung zu rascheln: "Sieh da, es hat geklappt, Rita! Wir haben uns gewehrt! Jetzt geht es los, jetzt wird es besser!", mit einer triumphierenden Geste schob er ihr eine Seite hinüber. Ihr Blick fiel auf das große Titelbild. Es zeigte ihren Reiner. Sie, die Bäuerin Rita, stand daneben und goss mit zufriedenem Lächeln eine große Kanne Milch in den Abfluss des Kuhstalls.
Darunter stand ein Satz von ihr, der ihr noch gestern sehr klug erschienen war: "Wir müssen so handeln, damit wir wieder eine Zukunft haben."
Während sie nun flüsternd diese Worte las, öffnete sie ihr rechte Hand, in der ein kleiner weißer Stein lag.
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BeitragThema: Re: Das Milchbild   Das Milchbild EmptyFr Jun 06, 2008 5:05 pm

Liebe Dabiku!
Du weißt ja schon, was ich von deiner Geschichte halte, aber ich schreib dir trotzdem nochmal Feedback hier.

Ich mag es, dass du aktuelle Geschehen miteinbeziehst, aber dann doch so weit in die Ferne gehst. In ein ganz anderes Land.
Das alles wirkt wirklich wie ein Traum, wundervoll!
Und vor allem der Schluss.
Der Schluss hat es mir am allermeisten angetan, als sie ihre Hand öffnet und das Steinchen darin findet!
Hammer!!
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BeitragThema: Re: Das Milchbild   Das Milchbild EmptySa Jun 07, 2008 3:22 pm

Boah, die Geschichte ist eigentlich total hart. Was ich gut finde, weil es ja Realität ist! Und das hast du gut verarbeitet!

Ich schweife kurz ab, weil ich euch gerne was erzählen würde: Bei uns wars ja auch schwierig in den letzten Wochen mit den Bauern. Und eine Bauernfamilie wäre auch quasi "gezwungen" gewesen, die viele Milch von ihren Kühen wegzuschütten! Da haben sie aber was ganz tolles gemacht. Sie haben das Dorf aufgerufen, zu ihnen zu kommen und sich Milch zu holen. Ob es nun gratis war, weiß ich leider nicht, das wurde nicht gesagt. Aber fast das ganze Dorf kam mit Kannen oder Behältern an und haben Milch geholt! Das fand ich ganz super von ihnen! Weil wegschütten wäre echt ein Skandal gewesen...

So, back zur Geschichte: Ich fand deine Wortwahl wirklich extrem gut! Vor allem den Anfang, die Mitte fand ich dann nicht so gut, aber ab ihrer inneren Vorstellung mit dem vielen Sand und so, da fand ichs dann wieder fantastisch geschrieben!
Und das Ende ist wirklich Hammer! Als sie ihre Hand öffnet und das kleine Steinchen darin sieht! Wunderschön!
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BeitragThema: Re: Das Milchbild   Das Milchbild EmptyMo Jun 09, 2008 9:33 am

Danke für eure netten Kommentare, schön, dass es euch gefallen hat.

Ja, hart ist es....und irgendwie hatte ich wirklich den ganzen Tag diese traurigen Kinderaugen vor mir.

Das ist ein schönes Beispiel, von dir, Kemijoki, wo ich sage, es geht doch! Natürlich kann der Mensch sich nicht alles gefallen lassen. Er muss sich wehren! Aber, es kommt immer auf die Art und Weise an!

35000 Liter Milch vernichtet! Man hätte sie wirklich kostenlos an Bedürftige, Pflegeeinrichtungen usw. abgeben können.

Das hätte dem Kampf um höhere Preise auch nicht geschadet.

Bei solchen Aktionen durchzieht mich immer wieder der Ausspruch, den ich mal las: "Der Mensch ist ein Fehler der Natur"
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BeitragThema: Re: Das Milchbild   Das Milchbild EmptyFr Jun 20, 2008 6:57 pm

an wen hättest die milch denn weitergegeben? nach afrika exportiert?

is doch unlogisch! diese pflegeeinrichtungen und bedürftige... das wird ja auch von irgendwem finanziert... die kaufen die milch ganz normal im geschäft...

aber die geschichte gfallt ma ganz gut...
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BeitragThema: Re: Das Milchbild   Das Milchbild EmptyDo Nov 20, 2008 11:20 am

Wow,

Mehr fällt mir im ersten Moment gar nicht ein. Eine Geschichte so wie ich es damals bei dem Wahnsinn der Milchbauern auch gedacht hatte.
Man kann sich wunderbar in deine Charakter hineinversetzen. Selbst zu Beginn, als es ja noch um den Überlebenskampf und so kann man es sicher nennen, der Milchbauern ging. Denn die bekommen wirklich nur Spottpreise für ihr Produkt. Selbst da kann man noch ihre Wut und ihren Schritt verstehen, die Milch wegzuschütten.
Dann aber der Ohnmachtstraum, wirft ein ganz anderes Bild auf. Das der hungernden Menschen auf dieser Welt. Ich hab mich bei der Milchverschwendung auch gefragt, warum sie die viele Milch nicht in arme Länder verschenkt haben, als sie einfach nur wegzuschütten. Aber das hätte wahrscheinlich nicht so viel Aufsehen erregt.

Besonders schön fand ich deinen Schluss, mit dem Stein in ihrer Hand. Eine bewegende Geschichte unserer Zeit.
Wirklich schön, anklagend, ohne wirklich zu verurteilen.
Gibts davon noch mehr?

mfg. Enrico
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